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Bye, bye, Love

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31.01.2020 · Tatsächlich ... Brexit: In der Nacht zum Samstag wird Großbritannien die Europäische Union verlassen. Was daraus folgt, ist unklar, nur eines steht fest – was in die Ferne rückt. Als Abschiedsgruß eine Sammlung britischer Eigenheiten, die fürderhin im europäischen Club fehlen werden.

Merkwürdiges Cricket

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Die Aufgabe war, ein Ballspiel zu erfinden, das folgenden Ansprüchen genügt: Die Verteidigung soll den Ball haben, denn mit einem Ball angreifen kann jeder. Weil elf gegen einen unfair wäre, sollen elf gegen zwei spielen, wobei einer von den zweien aber fast gar nichts macht. Das Ziel der Verteidiger soll sein, den Ball so abzugeben, dass der Empfänger nichts damit anfangen kann. Das Ziel des Angreifers soll sein, das Wichtigste im Leben zu beschützen, ein Home, das ein Castle ist. Der Hausmeister (Wicket-Keeper) des Castles, der hinter dem Angreifer steht, hat die Aufgabe, das Haus zu zerstören. Alles andere wäre eine zu banale Erklärung seines Namens. Der Angreifer soll den Ball aus dem Spiel bringen, bevor ihn der Hausmeister bekommt. Oder wenigstens sollen die Verteidiger für das Wiederfinden des weggeschlagenen Balles so viel Zeit verbrauchen, dass es dem Angreifer für kleine Spaziergänge auf die andere Straßenseite und wieder zurück reicht. Es soll dabei aber bitte nicht zu körperlichen Berührungen zwischen den Spielern kommen. Dafür soll es weh tun, wenn man den Ball abbekommt. Wünschenswert ist es auch, sauber zu bleiben, weswegen alle weiße Pullover, Hosen und Schuhe tragen, damit sofort klar ist, wer sich schmutzig gemacht hat. Das Spiel soll sich am besten tagelang hinziehen. Es muss eine Mittagspause und eine Teepause geben. Das Spiel muss außerdem so sein, dass sich Radio- und Fernsehreporter minutenlang über etwas anderes unterhalten können, ohne dass irgendjemand etwas verpasst. Cricket ist die Lösung dieser Aufgabe.

Es ist das merkwürdigste Ballspiel der Welt, weil es so ziemlich alles auf den Kopf stellt, was in anderen Sportarten gilt, und noch nie hat sich jemand gewundert, dass es von Engländern erfunden wurde, so um 1400 herum. Es ist, wie Baron Deedes of Aldington in the County of Kent geschrieben hat, der unter Harold Macmillan einmal Minister ohne besondere Aufgaben war, ein Spiel der „gestohlenen Stunden“. Denn am schönsten erleben Zuschauer Cricket mit dem Gefühl, eigentlich woanders sein zu sollen. Man ist beim Cricket zugleich auf dem Land und in der Stadt, zugleich in England und in seinem Commonwealth, zugleich beim Sport wie beim Ausruhen. Ein Spiel also, das Gegensätze zusammenhält, als seien sie keine. Im Naturkundemuseum von London gibt es eine Karikatur, der zufolge die Dinosaurier aus Langeweile während eines Cricket-Matches ausgestorben sind. Ob es wohl ein Zufall war, dass die Spiele, die das Cricket spannender machen sollten, indem sie nur noch einen Tag lang dauerten, in derselben Zeit, Anfang der Siebziger, aufkamen, als Großbritannien der EU beitrat? Kommt jetzt die verlorene Zeit wieder? JÜRGEN KAUBE


Exzentrik

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Bist du MIF oder TIF? Schüttest du erst die Milch in die Tasse („milk in first“) oder erst den Tee („tea in first“)? Die Frage entzweit Briten bekanntlich so heftig wie sonst nur der Brexit, und wer je einem solchen Streitgespräch beigewohnt hat, weiß, dass mit britischer Exzentrik nicht etwa die randständige Insellage des Königreichs gemeint ist. Vielmehr sehen seine Bewohner ihre Spleens als Tugend an, als patriotische Pflicht. Da wird eine winkende Solar-Queen zum Exportschlager, und der Thronfolger spricht zu seiner ihm treu ergebenen Petersilie. Ein Künstler verbuddelt sich im Erdreich, um die Psyche von Regenwürmern zu ergründen, und an den Universitäten wird die Reaktion von Star-Wars-Filmen auf Heuschrecken oder die Wurftechnik von Pfannkuchen erforscht. Die Lyrikerin und Berufsexzentrikerin Edith Sitwell verdankt ihren Ruhm auch nicht Gedichten, sondern den Beschreibungen extravaganter Mitmenschen. Einen vergleichbaren Hang zur Spinnerei findet sich unter Kontinentaleuropäern nicht – es sei denn, es handelt sich um England-Fans. In ihrer Begeisterung geben sich diese mindestens so obsessiv wie das Objekt ihrer Begierde. Vielleicht, weil die Eroberung der english rose durch vielerlei Dornenhecken führt?

Heute, pünktlich zum Austritt, veröffentlicht die deutsche Autorin Nele Pollatschek ihren „Liebesbrief an England“: Ihr Buch „Dear Oxbridge“ erzählt nicht nur von sieben verflixten Jahren an den englischen Eliteuniversitäten, sondern räumt freimütig ein, wie viel die Autorin bereit war, für den Wechsel in ihr Sehnsuchtsland zu opfern: praktisch alles. Und was bekam sie dafür? Regen, ungeheizte Wohnungen, verstopfte Toiletten, einerseits. Andererseits wurde sie mit Fragen beschenkt: „Hat eine Pfadfinderin eine politische Agenda?“, „Wofür gibt es Tragödien?“, oder „Wie würdest du das Gewicht der Atmosphäre berechnen?“ Damit hatte die deutsche Studentin nicht gerechnet, das kannte sie von hiesigen Unis nicht. Und es regte sie an, anders zu denken. SANDRA KEGEL


Gartenkunst

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Die britische Gartenkunst zu loben heißt Raben nach London tragen, aber der Eindruck, den eine bestimmte Anlage aus der unüberschaubaren Fülle englischer Gärten auf der Insel oder in der ganzen Welt vor fünf Jahren auf mich machte, wirkt bis heute nach. Natürlich kann ein Freund der Literatur des Bloomsbury-Kreises nicht durch die Grafschaft Kent reisen, ohne in Sissinghurst Castle haltzumachen, dem Wohnsitz von Vita Sackville-West und ihrem Gatten Harold Nicolson. Beide sind Inbegriffe englischer Exzentrik, aber der Garten von Sissinghurst, den sie ungeachtet ihrer eigentlichen Professionen (Schriftsteller waren sie, Nicolson auch noch Diplomat) von 1930 an kultivierten, ist beider Hauptwerk. Und das will angesichts ihrer Bücher einiges heißen. Aber der Garten! In ihm spiegelt sich das, was Großbritannien 1930 noch war: ein weltumspannendes Reich, in dem der Sommer niemals unterging. Irgendwo war immer Blüteperiode. Und so auch im Park von Sissinghurst. Zehn Gartenteile gibt es dort, und jeglicher hat seine Zeit. Und seine eigene Ästhetik, die Vita Sackville-Wests Freude am wechselnden Farbenspiel beweist – sie war der schillerndste Vogel im Bloomsbury-Kreis. Sie starb hier, 1962, sechs Jahre vor ihrem Mann, beide mit letztem Blick auf die gemeinsame Schöpfung, die seitdem so bewahrt wird, wie sie hinterlassen wurde, denn für die Pflanzen gilt, was Vita Sackville-West schon 1929 über sich selbst gereimt hat: „each flower her son, and every tree her daughter“. Die jährliche Besucherzahl in Sissinghurst ist festgeschrieben, um Beschädigungen vorzubeugen. An den National Trust hatte das Ehepaar sein Schloss schon zu Lebzeiten übergeben, für sich und die Familie handelte es ein Wohnrecht aus. Man staunt, wie selbstverständlich Engländer Verantwortung abgeben können, wenn es ums Bewahren von geliebtem Bestehenden geht. Das hat die EU nicht begriffen. ANDREAS PLATTHAUS


Gurkensandwich

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Seit der neolithischen Revolution zu Beginn der Jungsteinzeit besteht der Sinn des Kochens darin, Essbares in Nahrhaftes zu verwandeln. Ein paar tausend Jahre später kam als zweite Sinnhaftigkeit hinzu, das Nahrhafte auch schmackhaft zu machen, was schon zu Zeiten des römischen Feinschmeckers Apicius verblüffend finessenreiche Resultate hervorbrachte. Wieder ein paar Jahrhunderte später gelang der englischen Kulturnation das Kunststück, diesen jahrtausendealten Prozess im Handstreich umzukehren und etwas Essbares zu kreieren, das weder nahrhaft ist noch den geringsten Geschmack besitzt. So etwas radikal Revolutionäres glückt nur den wahrhaft großen Völkern der Erde. Zu verdanken haben wir das dem Fanatismus von John Montagu, des vierten Earl of Sandwich, der nach heutigen Maßstäben ein Workaholic, zugleich aber auch ein besessener Kartenspieler war. Um weder bei der einen noch der anderen Beschäftigung Zeit mit der Nahrungsaufnahme zu vergeuden, ließ er sich in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ungeröstete Weißbrotscheiben reichen, die mit Butter bestrichen und mit dünnen Rindfleischscheiben belegt waren – fertig war das Sandwich. Montagus Urversion des Brotimbisses wurde im Königreich vor allem in der proletarisch-asketischen Version des „Cucumber Sandwich“ populär, das mit nichts anderem als ein bisschen gesalzener Butter und Salatgurken veredelt wird.

Dergestalt avancierte diese nationale Leibspeise zum Musterbeispiel anarchistisch britischer Exzentrik, zur kulinarischen Kampfansage an jede Ausgeburt von Aroma, zum geschmacklichen Nihilismus in höchster Potenz. Die Brotscheiben aus reinem Weizenmehl sind von Natur aus geschmacksinexistent, dürfen sich auch nicht durch Röstung ein wenig Aroma aneignen und legen sich deswegen in ihrer Schlabbrigkeit wie isolierendes Dämmmaterial um die Zähne. Die Salatgurken bestehen zu sechsundneunzig Prozent aus Wasser, gehören also gleichfalls von Natur aus zu den geschmacksärmsten aller Nahrungsmittel und verbrüdern sich in perfider Eintracht mit dem Weißbrot. Und der leicht gesalzenen Butter, auch nicht gerade ein Aromenkraftprotz, bleibt nichts anderes übrig, als angesichts dieser faustischen Allianz mit wehenden Fahnen unterzugehen. Und doch hat alles seinen Sinn: Es ist, als beiße man in das Nichts, es ist eine Meditation des totalen Verzichts, die Abschaffung aller Ansprüche ans Essen. Derart masochistisch gestärkt, erobert man Weltreiche, weil man keine Angst mehr davor hat, dass es in Hinterindien nichts Anständiges zu futtern gibt. O Britannien, o weises Britannien! JAKOB STROBEL Y SERRA


Aldis englische Woche

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Ein Glas hat sich gerettet, ein letztes Glas Zitronenmarmelade, versteckt im Keller hinter aufgestapelten Konserven und Bergen von Einmachgläsern – allesamt nach Hause geschleppt nicht aus Furcht vor Seuchen oder dem Ausbruch des dritten Weltkriegs, sondern im wöchentlichen Irrglauben, dass der doppelte Einkauf an einem Samstag den des folgenden Wochenendes komplett überflüssig machen könnte. Einzig die Zitronenmarmelade verdankt sich dem unbedingten Willen zum Horten, denn seine „Englische Woche“ veranstaltet Aldi Süd unregelmäßig und selten. Anders als Konfitüre aus Erdbeeren oder Sauerkirschen steht diese Marmelade bestenfalls zweimal im Jahr in den Regalen. Oder muss man sagen: stand? Wir jedenfalls nutzten das britische Fest im Discounter stets gnadenlos aus und zogen nicht nur in einer Filiale sämtliche Gläser mit dem zitronengelben Etikett aus dem bunt sortierten Angebot englischer Marmeladen, sondern gleich auch noch in all den anderen Läden im weiteren Umkreis, bis unsere Pyramide größer war, als die in den Läden je gewesen sind. Vierhundertfünfzig Gramm, verspricht das Etikett, entsprächen dreiundzwanzig Portionen. Das klingt nach viel, aber reicht nicht weit, wenn sich drei Personen täglich zwei bis drei Portionen auf ihre Toastscheiben schmieren. Der eine freut sich über die feingeschnittenen, ungeheuerlich sauren Zitronenscheiben, die andere puhlt noch den kleinsten Rest des Fruchtanteils von fünfundzwanzig Prozent mit dem Messer heraus.

Aber einig sind sich alle in der einen Vokabel: „Lieblingsmarmelade.“ Die letzte „Englische Woche“ liegt gut ein Jahr zurück, wie in vorauseilendem Brexitgehorsam. Oder darf man gerade jetzt mit neuen Lieferungen rechnen? Denn die viel häufiger veranstaltete „Asiatische Woche“ orientiert sich ja auch nicht an den Gegebenheiten der Europäischen Union. Für Nachschub jedenfalls wird es höchste Zeit! Zumal das dieser Tage im Keller entdeckte Glas seine garantierte Haltbarkeit schon am 24. September 2018 überschritten hat. FREDDY LANGER


Gentlemen’s Club

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Es gibt einen Ort mitten im Zentrum Londons, da herrscht eine andere Zeit. Da misst man die Stunden mit Uhren aus Tagen, an denen unten auf der Pall Mall, dem ehrwürdigen Prachtboulevard, noch Pferdekutschen aneinanderstießen und der Zigarrenrauch aus allen möglichen Mündern und Ritzen quoll. Ein Ort, der konträr zu fast allem steht, was heute als fortschrittlich gilt: Er ist alt, ja geradezu vormodern, hat keine doppelverglasten Fenster, dafür ständig lodernde Kaminfeuer und goldene Tischglöckchen, mit denen man nach Kellnern klingeln kann. Nein, „man“ nicht mehr mit zwei „n“geschrieben, denn seit 1996 sind in diesem „Gentlemen’s Club“ auch Frauen zugelassen. Um 1830 von und für Absolventen der Universitäten Oxford und Cambridge gegründet, vereint der „Oxbridge-Club“ mit seinen großzügigen Gemeinschaftsräumen, Sportanlagen und Bibliotheken elitäres Formbewusstsein mit gelassenem Kosmopolitismus. Wer hier, nur wenige Meter von dem immer hektischeren Treiben der „City“ entfernt, eintritt und vom Rezeptionisten ermahnt wird, seine Krawatte straffer zu ziehen oder die Jeans gegen eine dunkle Hose zu tauschen, wer sich am Schuhputzkasten auf der Toilette schnell noch über die Pumps bürstet und dann eintritt in den großzügigen Speisesaal, dort später seine Bestellungen auf ein Blatt Papier kritzelt, damit der Kellner das Gespräch nicht unterbrechen muss, und sich später ins Obergeschoss in die Bibliothek zurückzieht, wer einmal auch nur einen halben Tag im „Oxbridge-Club“ zugebracht hat, der wird sich immer zurücksehnen an diesen extravaganten Ort der Gelassenheit und Ruhe.

Damit stellt er übrigens das krasse Gegenteil zum angeblich zeitgemäßeren Nachfolger des „Gentlemen’s Club“, des sogenannten „Soho-Hauses“, dar, das in falsch verstandener Rimbaudmanier verzweifelt versucht, „absolut modern“ zu sein, und somit auch die hektische Nervosität unserer Zeit spiegeln muss. Was uns auch fehlen wird, wenn die Insel von Europa Abschied nimmt, sind Rückzugsorte wie diese. Wo die Zeit auf leisen Sohlen läuft, im Vertrauen darauf, dass es auch ein Leben gibt, aus dem, was immer gilt. SIMON STRAUSS


Understatement

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Untertreiben statt übertreiben, was ist nervenschonender, was erquickender inmitten unserer Aufgebrachtheiten als das britische Understatement? Dieses eigentümliche Stilmittel blasierter Bescheidenheit, aus dem die Eingebung spricht, dass die Hauptsache immer just woanders spielt, nur nicht in der Situation, in welcher man gerade steckt. Herunterspielen, tiefstapeln, drumherum reden: Man lässt es ein wenig feucht sein, wenn es aus Eimern schüttet. Gewinner trumpfen nicht in der Totalen auf, sie kommen von der Seite, das Zurückhaltende blamiert das Feiste bis in die Knochen. Und ein quirliges, jedenfalls nicht ganz bei der Sache gesprochenes „I am not sure yet“ ersetzt die drögen Direktheiten von „yes“ und „no“, löst sie auf in die vermeintlichen Absencen der Sprechenden. Aber aufgepasst: Das Understatement ist eng mit dem Bluff verbunden, nicht dass jemand denkt, hier walte die reine Menschlichkeit, eine Liebenswürdigkeit ohne bösartiges Vermögen. Nein, die Höflichkeit im Format des Understatements hat ihren maliziösen Preis. Dem Gegner wird Sand ins Auge gestreut, er bleibt über die tatsächliche Tragweite der Situation im Unklaren und weiß bei aller rhetorischen Harmlosigkeit, die ihn sträubend geneigt macht, doch gar nicht, wie ihm geschieht. Das schmälert keinesfalls den Rang dieses Stilmittels. Während nämlich alle Welt aufhört, zwischen privat und öffentlich zu unterscheiden, bleibt das verhüllte Auftreten im britischen Understatement der Königsweg, um nicht mit der Tür ins Haus zu fallen. CHRISTIAN GEYER-HINDEMITH


Wunderkammer

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Vielleicht lässt sich die Skurrilität der Briten, die ebenso liebenswert ist, wie sie zuletzt problematisch war, nirgends besser als im Sir John Soane’s Museum in London nachvollziehen. Das Museum, eine Kunst- und Wunderkammer, vom Keller bis unters Dach vollgestellt mit antiken Graburnen, Kupferstichen, Korkmodellen berühmter Bauwerke sowie Statuen und Gipsabgüssen, ist schon als Gebäude ein zusammengemurkeltes Konglomerat aus den drei einstigen Wohnhäusern des geadelten Architekten John Soane, Erbauer des ersten Monumentalbaus der so nicht mehr existenten Bank of England. Wer einmal in einer Londoner Kellereinliegerwohnung genächtigt hat oder auf die surrealen Geflechte aus an den kalten Fassaden offen aufliegenden Regenrinnen und Wasserrohren blickte, Albtraum jedes deutschen Spenglermeisters, weiß, wie eigenwillig die Baulösungen dieser zusammengeschweißten Privatmuseumsteile sind, die von außen wie ein dreiteiliger Altar aussehen. Eine verspiegelte Decke im Frühstückssaal, der holzvertäfelte „Monk’s Parlour“ mit seiner bizarren „Gothic“-Kollektion oder der ägyptische Sarkophag von Sethos I. im Keller sind die harmlosesten Auswüchse stilmixender Britishness. Das Museum ist mit seiner prachtvollen Mischsammlung – unter anderem besitzt es William Hogarths Karikaturenserie des englischen Kultur-Hooligans und Wüstlings „A Rake’s Progress“ – einzigartig. Seit 1833 steht die Sammlung „for the benefit of amateurs and students in architecture, painting and sculpture“ allen Kulturinteressierten offen. STEFAN TRINKS


Dickleibige Romane

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Was lesen wir doch so gerne von diesen Töchtern aus mittelgutem bis besserem englischen Hause, die so verheiratet werden müssen, dass Haus, Hof und Familie nicht unter die Räder kommen, und mindestens in zweiter Ehe sollten sie auch noch glücklich werden. Im besten Fall taucht nicht noch irgendwo ein adoptierter Schwippschwager auf, der dank einer wirklich fiesen Klausel im Testament des Erbgroßonkels begünstigt wird, oder lässt sich wenigstens geräuschlos in die Kolonien entsorgen, während die Schwester mit irgendeinem Schönling in Uniformjacke nach Schottland durchbrennt, was das Ansehen der Familie im ohnehin zum hemmungslosen Klatsch neigenden Kleinstädtchen in Schieflage bringt, aber irgendwo lassen sich mit einer Verwalterstelle noch dreißig Pfund im Jahr lockermachen, so dass die beiden wenigstens in einem Cottage mit Gebrauchtpferd und Gebrauchtporzellan glücklich werden können, was der Protagonistin erst einmal nichts nützt, aber am Ende stellt sich der zunächst verschmähte, aber interessante Bastard unklarer Herkunft als doch akzeptabler Bursche aus nicht ganz schlechter Familie heraus, wofür aber erst einmal ein angeheirateter Cousin auftauchen muss, der noch genau weiß, wer wen damals in erster Ehe über den Tisch gezogen und verstoßen hat, und zum Beweis das Tagebuch der Tante auf den Tisch legt.

Wer glaubt, es ginge in dickleibigen englischen Klassikern aus dem neunzehnten Jahrhundert um seichten Herzschmerz, verkennt die dynastische und gesellschaftliche Komponente der Sache. Denn es gilt, sämtliche finanziellen Belange, Land, Familiensitz und gesellschaftliche Schichtung für mindestens die nächste Generation so zu sichern, dass alles seine Ordnung hat. Nicht nur Könige brauchen Thronfolger, weshalb ihr Familienleben nicht ihre Privatsache ist, auch jede andere Familie betreibt im kleineren Rahmen Heiratspolitik, um das eigene Reich zusammenzuhalten. Was sich dabei in beschaulichen englischen Dörfchen abspielt, sind Königsdramen in Schrumpfform, und ihre Zutaten sind menschliche Komödien und satirisch angespitzte Charakterstudien. Dass sich derart personalintensive Handlungen kaum auf unter vierhundert Seiten abspielen können, versteht sich von selbst. Doch der dickleibige englische Klassiker ist unverwüstlich, man wird die Austens und Brontës und Eliots – meistens waren es ja Autorinnen – auch in hundert Jahren noch lesen und unverdrossen neu verfilmen. ANDREA DIENER


Humorkompetenz

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Vierzig Milliarden Euro: Das ist der Wert an Gütern, die Deutschland jährlich aus dem Königreich importiert. Manche Dinge lassen sich beziffern. Andere sind unschätzbar. Sie tauchen in dieser Statistik nicht auf, nicht mal bei den Dienstleistungsimporten, die weitere 25 Milliarden schwer sind. Dabei haben die Briten unschätzbare Dienste geleistet, wenn es darum ging, den Deutschen Humor beizubringen. Ja, die Deutschen sind nicht so humorlos, wie es immer hieß, aber wenn wir ehrlich sind, sind wir doch deutlich besser darin, über Witze zu lachen, als sie selbst zu machen. Die Briten haben uns beigebracht, dass man über Dinge lachen darf, die tabu scheinen. Dass man intellektuell und albern zugleich sein kann. Dass Humor komplexe Peinlichkeitsgefühle auslösen kann – immerhin hat das Deutsche selbst den hübschen Begriff „Fremdscham“ dafür entwickelt. Dass ein Scherz besonders lustig ist, wenn der Scherzende sich nicht auch noch selbst auf die Schenkel klopft.

Sie haben uns Monty Python geschenkt, Mr. Bean und „The Office“. Hätten wir unser Witz-Sensorium ohne sie so fein entwickeln können? Wir hatten Loriot, immerhin, aber wenn nach Loriot noch viel gekommen wäre, würden wir uns nicht bis heute ständig darauf beziehen. (Diesen Satz würde ein durchschnittlich humorbegabter Deutscher mit den Worten „Früher war mehr Lametta“ zusammenfassen, q.e.d.) Jetzt bleibt uns nur der österreichische Humor, der dem britischen noch am nächsten kommt, nur dass die Österreicher bevorzugt über Krankheit und Tod witzeln, was auf Dauer gar nicht fröhlich macht. Natürlich entzieht der Brexit uns nicht das Recht, britische Filme anzuschauen, im Gegenteil: Beim Humorexport spielt der Zoll die geringste Rolle. Aber viel zu lachen hat man beim Blick nach England im Moment auch nicht. JULIA BÄHR


BBC-Sitcoms

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Mehr Schein als Sein, das ist das Motto dieser Sitcom. „Keeping Up Appearances“ wurde von 1990 bis 1995 produziert und ist die ins Ausland meistverkaufte BBC-Produktion aller Zeiten. Die Serie dreht sich ganz um die Hausfrau Hyacinth Bucket, die allein schon mit ihrem, nun ja, eher proletarischen Nachnamen ein Problem hat. „It’s Bouquet“, korrigiert sie am Telefon mit aufgesetztem Charme den Anrufer. Doch Glück hat, wer mit Hyacinth nur telefoniert. Emmet, der bei seiner Schwester Elizabeth lebt, erleidet regelrechte Panikanfälle, wenn vom Nachbarhaus der Buckets her auch nur ein Mucks zu hören ist. Hyacinth will den Musiker stets von ihren angeblichen Gesangskünsten überzeugen. Ein gestörtes Verhältnis hat die Frau, die immer Blümchenkleid trägt, auch zu ihrer Familie. Die Schwestern Daisy und Rose gehören offensichtlich der britischen Unterschicht an. „Ich liebe meine Familie, aber nicht bei Tageslicht“, lässt sich Hyacinth vor einem unvermeidbaren Familienbesuch zitieren.

Hauptdarstellerin Patricia Routledge, inzwischen neunzig Jahre alt, ist der Figur längst überdrüssig. 2016 bezeichnete sie die BBC als „verzweifelt“, weil sie zweieinhalb Jahrzehnte später eine Serie über die „junge Hyacinth“ drehte. Spannend wäre aber gewesen, wie sich die Figuren aus der Originalserie in der heutigen Zeit verhalten hätten. Käme es in der Frage des Brexits zur Snob-Mob-Allianz? Man kann sich sowohl Hyacinth als auch Onslow, den arbeitslosen und viel Bier trinkenden Mann von Daisy, als Anhänger des EU-Austritts vorstellen. Hingegen Richard, der stets geduldig und vernunftgeleitet handelnde Beamte und Ehemann von Hyacinth, ist ein Prototyp aus der englischen Mittelschicht, die vergleichsweise europafreundlich ist. NIKLAS ZIMMERMANN


Adieu to old England

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Das Unvereinigte Königreich besteht aus fünf Gebieten: England ohne London, das mit großer Mehrheit – und damit das Referendum entscheidend – für den Austritt gestimmt hat; London, das mehrheitlich gegen den Austritt war; Wales, das mit knapper Mehrheit für den Austritt stimmte, Nordirland und Schottland, die beide mehrheitlich für den Verbleib stimmten. So hat es Anthony Barnett in seinem nicht ins Deutsche übersetzen Buch „ The Lure of Greatness“ (Die Verlockung der Größe) analysiert. England ohne London beherbergt sehr unterschiedliche Menschen, im Süden einkommensstarke Mittelschichten, in den Midlands eine postindustrielle Gesellschaft, die zu kämpfen hat, und im Norden die Abgehängten. Diese inhomogene Bevölkerung hat jenen Schock ausgelöst, dessen Wellen am Morgen des 24.Juni 2016 das Inselreich und seine kontinentaleuropäischen Nachbarn erschütterte.

Stellvertretend für viele andere beschrieb der als Sachbuchautor erfolgreiche Althistoriker Tom Holland („Persisches Feuer“, „Rubikon“) die „Starre“, in der er sich befand, in einem elektronischen Briefwechsel mit dieser Zeitung. Es komme ihm vor, als sei er Zeuge des „schlimmsten Ereignisses seit dem Zweiten Weltkrieg“. Zwar habe er zu akzeptieren, dass die Mehrheit seiner Landsleute anders dächte als er, und er hoffe, die politischen Eliten in Europa hätten den Warnschuss gehört. Aber für sein Land erwarte er das Versagen der Wirtschaft und, damit einhergehend, eine „Desintegration“. Eine „Vielzahl unerfreulicher Genies ist aus der Flasche gelassen worden“, schrieb Holland. Siebenunddreißig Monate später hat sich nichts an diesem Befund geändert. HANNES HINTERMEIER